Die IT-Branche sucht händeringend nach neuen Talenten – der Fachkräftemängel ist enorm und lag 2021 schon bei 137.000 offenen Stellen. Doch was tun? Die naheliegendste Lösung ist: Fachkräfte selbst auszubilden. Klingt auf dem Papier ganz einfach, ist in der Praxis aber oft mit einigen Hindernissen verbunden.
Stefan Macke, Ausbildungsleiter bei der ALTE OLDENBUGER Krankenversicherung AG.
Ausbildung in der Praxis – wie funktioniert es wirklich? Dazu haben wir uns mit Stefan Macke, Ausbildungsleiter für Fachinformatiker/-innen bei der ALTE OLDENBURGER Krankenversicherung AG, ausgetauscht. Er ist bekannt als absoluter Ausbildungsexperte und nutzt seine Expertise als IHK-Prüfer, Dozent sowie für seinen eigenen Blog und Podcast rund um das Thema IT-Berufe.
„Die heutige Ausbildung im IT-Bereich sollte weniger auf das reine Erlernen von Technologien ausgerichtet sein, sondern vielmehr darauf, die Grundprinzipien zu verstehen, um zukünftige Technologien agil zu meistern.“ – Stefan Macke
Hallo Stefan - vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für ein Interview nimmst. Lass uns gerne direkt in die Fragen einsteigen...
Sehr gerne! Ja lass uns direkt loslegen…
Wie gestaltest Du die Ausbildung, um sicherzustellen, dass Deine Auszubildenden die notwendigen Fähigkeiten erlernen, um in der IT-Branche erfolgreich zu sein?
Die Ausbildung bei uns wird anhand des Ausbildungsrahmenplanes für das Berufsbild Fachinformatiker/-in Anwendungsentwicklung gestaltet. Im betrieblichen Ausbildungsplan werden alle zu vermittelnden Fähigkeiten und Kenntnisse in konkrete „Maßnahmen“ überführt, die im Laufe der drei Ausbildungsjahre durchgeführt werden. Das können gezielte Schulungen sein, aber auch Programmierprojekte, unsere regelmäßigen „Buchclubs“ zu IT-Fachbüchern, Onlinekurse oder das Bearbeiten meiner eigenen Podcast-Episoden.
In unserem Unternehmen legen wir den Fokus in der Ausbildung auf die allgemeine berufliche Qualifikation und weniger auf das Erlernen der bei uns eingesetzten (Nischen-)Technologien. Wir wollen gute Software-Entwickler/-innen ausbilden und keine Spezialisten für exakt die Technologiekonstellation, die wir selbst einsetzen. Dennoch sollen die Azubis natürlich nach der Ausbildung produktiv in unserem Unternehmen arbeiten. Im Zweifel entscheide ich mich aber immer für die allgemeingültigen Ausbildungsinhalte, bevor ich nur unternehmensspezifisches Wissen vermittle.
Wie motivierst Du Deine Azubis, ihre Komfortzone zu verlassen und sich neuen Herausforderungen zu stellen?
Meine Azubis müssen und dürfen sehr viel eigenverantwortlich lernen und umsetzen. Wir stellen ihnen verschiedene Lernmöglichkeiten zur Verfügung, z.B. Bücher, Onlinekurse, meinen Podcast, aber inzwischen auch eCademy.
Mit welchem Medium sie sich die nötigen Ausbildungsinhalte aneignen, ist mir am Ende egal. Ich kontrolliere abschließend in Form von Lernzielkontrollen das Verständnis bei meinen Azubis. Allerdings hilft es auch nicht weiter, alle Inhalte nur auswendig zu lernen. Daher müssen sie das Gelernte natürlich auch in Praxisprojekten umsetzen. So werden z.B. schon die Azubis im ersten Ausbildungsjahr mit den Azubis der höheren Ausbildungsjahre zusammen an ein komplexes Webprojekt gesetzt. Beim Pair Programming werden sie so direkt ins kalte Wasser geworfen und müssen gleich mit ran. Hier muss man natürlich aufpassen, dass sie zu Beginn nicht gleich überfordert werden. Aber durch die Einbeziehung der höheren Azubi-Jahrgänge funktioniert das eigentlich sehr gut, weil diese sich noch daran erinnern können, wie es ist, die Technologien nicht zu beherrschen, und sie den Neulingen entsprechend erklären.
Wie bzw. womit unterstützt Du Deine Azubis, die Schwierigkeiten haben, komplexere Aufgabenstellungen zu verstehen?
Ich glaube, dass ich sehr gut darin bin, Sachverhalte aus verschiedenen Sichtweisen zu erklären. Ich versuche mich in die Sicht der Azubis hineinzuversetzen und verwende konkrete Praxisbeispiele aus dem Alltag oder am besten aus ihren eigenen Projekten. Ich lege auch großen Wert darauf, dass gerade zu Beginn der Ausbildung die Grundlagen und vor allem die Fachbegriffe korrekt erlernt und wiedergegeben werden können.
Dadurch fallen spätere Erklärungen deutlich leichter, weil sie aus diesen kleinen Bausteinen zusammengesetzt werden können. Unsere Azubis sind ab und an genervt, wenn ich zum x-ten Mal nachfrage, wofür eine bestimmte Abkürzung steht. Langfristig zahlt sich das auf jeden Fall aus. Und wenn es theoretisch mal gar nicht klappen will, schnappe ich mir die Tastatur und wir programmieren einfach zusammen.
Wie förderst Du die individuellen Stärken der Auszubildenden, wie unterstützt Du bei der Überwindung von Schwächen?
Bei eigenen Projektarbeiten während der Ausbildung gibt es verschiedene Möglichkeiten, auf die Stärken der einzelnen Auszubildenden einzugehen. Bei regelmäßigen Code-Reviews oder gemeinsamen Pair Programmings können gezielt die Themen vertieft werden, die bereits gut umgesetzt wurden.
Auch gibt es gerade bei der Programmierung unzählige verschiedene Lösungsmöglichkeiten für einzelne Probleme. Und je nach Wissensstand des einzelnen Azubis können z.B. alternative Lösungsmöglichkeiten entwickelt und verglichen werden. Für die Vorbereitung der Abschlussprüfung ist es mir persönlich auch sehr wichtig, dass gute Azubis nicht nur eine Lösung kennen, sondern immer auch die Vor- und Nachteile potenzieller Alternativen.
Auf welche Zukunftskompetenzen legst Du bei der Ausbildung von Fachinformatiker/-innen besonderen Wert, und wie vermittelst Du diese?
Dazu müsste ich natürlich erstmal wissen, was Zukunftskompetenzen sein sollen. Und das fällt mir ehrlich gesagt relativ schwer. Ich glaube aber, dass man die Ausbildung im IT-Bereich so gestalten kann, dass Azubis lernen, neue Technologien schnell zu verstehen und anzuwenden. Es sollte weniger darum gehen, eine konkrete Programmiersprache zu lernen, sondern die grundlegenden Prinzipien dahinter. Dann wird es Azubis leichtfallen, Programmiersprache zu erlernen, die es heute noch gar nicht gibt. Ich maße mir nicht an, vorherzusagen, welche Technologien in Zukunft wichtig werden und welche nicht. Daher würde ich eher in Richtung der sozialen Fähigkeiten gehen. Denn die Interaktion mit Menschen ist sicherlich etwas, das auch in Zukunft nicht so einfach von einer künstlichen Intelligenz übernommen werden kann.
Anforderungsanalyse zusammen mit dem Fachbereich, Entwürfe von Oberflächen und Abstimmung mit den Kunden, die sie nachher nutzen sollen, Usability-Tests, Schulungen und Gespräche mit Projektmitarbeiter/-innen. Das sind Kenntnisse, die auch in Zukunft gefragt sein werden, egal welche Programmiersprache oder welches Betriebssystem eingesetzt wird. Und diese Fähigkeiten lernt man nicht aus Büchern, sondern durch das konkrete Anwenden.
Daher müssen die Azubis im ersten Lehrjahr bei der Umsetzung ihrer Projekte die verschiedenen Rollen einnehmen, z.B. die Projektleitung oder den Scrum Master, oder Anforderungen mit dem Fachbereich selbstständig abklären.
Nutzt Du hybride Lehrmethoden und wenn ja, wie integrierst Du diese in den Ausbildungsalltag?
In der heutigen Welt kann ich mir nicht mehr vorstellen, nur ein Medium für das Lernen einzusetzen. Jeder Azubi soll mit den Medien lernen, die sie/er für die geeigneten hält. Onlinekurs, Podcast, interaktive Plattform oder klassischer Frontalunterricht. Hauptsache, der Azubi hat am Ende etwas gelernt. Dafür bekommen unsere Azubis natürlich Zeit während der täglichen Arbeitszeit. Sie können also durchaus am Arbeitsplatz mit Kopfhörern einen Online-Vortrag anhören oder sich mit einem IT-Fachbuch auf einen Sitzsack im Kickerraum setzen. Wann, wo und wie die Azubis lernen, ist mir am Ende egal.
Wie bereitest Du Deine Azubis auf die Zwischen- & Abschlussprüfung vor?
Sehr intensiv. Wir fangen bereits im ersten Ausbildungsjahr damit an, regelmäßig alte IHK-Prüfungsaufgaben zu bearbeiten. Zusätzlich gibt es gemeinsame Buchclubs zu bestimmten Büchern zur Prüfungsvorbereitung, bei denen Azubis alles nachfragen können, was sie im Buch nicht verstanden haben. Mindestens einmal im Monat werden außerdem IHK-Aufgaben zu den Kerngebieten des Ausbildungsberufs (Programmierung und Datenbanken) bearbeitet und in einem gemeinsamen Termin im Detail besprochen. Einige Monate vor den konkreten Prüfungen werden dann außerdem zahlreiche Lernzielkontrollen mit mir durchgeführt. Das heißt, ich frage unsere Azubis mündlich zu den Lerninhalten ab. Im täglichen Standup-Meeting mit allen Azubis beantworten wir außerdem einige zufällig gezogene Lernkarten für die Prüfungsvorbereitung. Das alles passiert selbstverständlich während der Arbeitszeit.
Wie förderst Du das kritische Denken Deiner Azubis, um ihre Problemlösungskompetenz zu verbessern?
Da verfahre ich nach dem Shu-Ha-Ri-Prinzip aus dem Kampfsport („erst lernen, dann loslösen und endlich übertreffen“). Das besagt, dass man zunächst einmal die Grundlagen perfekt erlernen muss und dabei mehr oder weniger nachmacht, was der „Meister“ vormacht. Nach und nach findet man dann eigene Lösungswege und lernt abzuwägen, ob die gelernten Inhalte für den konkreten Anwendungsfall auch passend sind, oder ob man Alternativen anwenden müsste. Schlussendlich findet man dann eigene Lösungen für gegebene Probleme.
Für mich ist also der Weg zum kritischen Denken erstmal eine solide Grundausbildung und das umfassende Verständnis der Technologien. Daher lasse ich meine Azubis auch die kleinsten Kleinigkeiten immer wieder erklären, um zu prüfen, ob sie sie auch wirklich verstanden haben. Je weiter wir dann in der Ausbildung fortschreiten, desto häufiger stelle ich in Lernzielkontrollen eher offene Fragen bzw. Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Ich erwarte dann eine Abwägung verschiedener Alternativen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Und letztlich müssen Azubis in ihrem eigenen Abschlussprojekt auch viele Entscheidungen treffen, die sie auf Basis ihrer erlernten Fähigkeiten begründen müssen.
Über die reinen Ausbildungsinhalte hinweg fördere ich das kritische Denken mit unserem wöchentlichen Termin am Freitagmittag, in dem die Azubis und auch ich selbst einen „Link der Woche“ vorstellen. Das kann irgendeine Ressource sein, die uns in der Woche aufgefallen ist. Es muss hier nicht zwangsläufig um Ausbildungsinhalte gehen, kann also z.B. auch ein aktueller Kinofilm oder ein Videospiel sein. Aus der Vorstellung dieser Links ergeben sich sehr häufig Diskussionen mit den Azubis. Ich erinnere mich z.B. an einen Termin, bei dem ein Auszubildender das Payback-System vorgestellt hat, weil er damit beim Einkaufen Geld sparen konnte. Im Anschluss führten wir dann eine sehr angeregte Diskussion über Datenschutz. Für solche Termine muss natürlich Raum während der Arbeitszeit gegeben werden, aber das ist es mir wert.
Wie förderst und vermittelst Du neben fachlichen Fähigkeiten wichtige Soft Skills wie Teamarbeit, Kommunikation und Zeitmanagement?
Wie schon erwähnt arbeiten unsere Azubis bereits ab dem ersten Ausbildungsjahr gemeinsam in Projekten. Jeder Azubi nimmt für einen gewissen Zeitraum u.a. die Rolle des Product Owners oder Scrum Masters ein – „Learning by Doing“.
Außerdem haben wir Präsentationen von Azubis in unserer IT-Runde, z.B. zu Büchern, die wir gemeinsam gelesen haben, oder auch zu den umgesetzten Azubi-Projekten. Dabei wird mit Feedback aus der Runde nicht gegeizt, sodass Azubis früh lernen können, Kritik anzunehmen. Auch die regelmäßigen Code-Reviews und Pair-Programmings mit Kolleg/-innen tragen dazu bei. Hier müssen Azubis schnell lernen, dass man den Code von der Person dahinter trennen muss, nicht persönlich werden darf, sondern objektiv bleiben muss.
Vielen Dank für das Interview, Stefan!
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